"Critical Mass", Axel Obiger, 3.3.-25.3.2017
Der Höhenflug des Populismus mit Trump, Erdogan, Le Pen und (oder dank?) Putin bewegt uns alle: Weil wir uns vom Faszinosum des Simplifizierens, von der Märchenwelt dieser Kulturvereinfacher verführen lassen; oder weil wir uns jetzt doch endlich für den steinigen Weg der Verteidigung von Freiheit, Pluralität und Anstand mobilisieren lassen. Für die einen wie die anderen gilt, dass sich bislang einzementierte Maßstäbe verschieben und damit Perspektiven der Weltsicht. Was ist Realität in Zeiten von Fake News? Was Gewissheit, was Verunsicherung?
Auch der Kunst nötigt sich die Politik als Thema auf. Und Alke Brinkmann, die sich schon seit Jahren mit dem Verhältnis von Macht und Mensch beschäftigt und dazu teils biographisch, teils aus der medialen Bilderwelt inspirierte Werke geschaffen hat, findet in Sencer Vardaman einen ebenso überraschenden wie offensichtlichen Seelenverwandten, den sie folgerichtig zu dieser gemeinsamen Ausstellung eingeladen hat. Beide, Brinkmann und Vardarman, interessiert die Wirkung von Bildern aus dem politischen Raum, beide arbeiten mit dem Verhältnis von Motiv und Inhalt.
Beide – ein Zufall? – haben sich dabei irgendwann dem vielleicht ultimativen Ikon des menschlichen Selbstzerstörungsdrangs angenommen: Vardaman spielt in „Moonlight“ mit einer postmodernen Verkitschung des Atompilzes über dem Bikini-Atoll, Brinkmann lässt mit weißer Schicht für weißer Schicht die Verwüstung von Hiroshima verblassen und definiert sie damit neu. Von beiden müssen wir als Betrachter uns fragen lassen, wie wir es zulassen konnten, dass der schlicht unfassbare Schrecken der Wasserstoffbombe zum ästhetischen Signet verkommen konnte. Wollen wir es eigentlich gar nicht mehr so genau wissen? Wollen wir nicht mehr so genau hingucken?
Alke Brinkmann und Sencer Vardarman fragen uns weiter. Wie ertragen wir die stille Ästhetik der „Falling Men“, wenn die Geschichte dazu eigentlich offensichtlich sein muss und erdrückend? Wie denken wir uns in die „Patterns of Mankind“ ein Miteinanderliegen und –lieben hinein, wo doch naheliegt, dass diese Muster menschliche Abgründe zeigen? Wohin, fragen wir schließlich fast ängstlich, ist die Energie der Massen in „Night Watch“ gerichtet? Und ahnen schon – das wird nicht gut.
Weder Vardarman noch Brinkmann geben uns Antworten, sondern überlassen uns der Verunsicherung. Das Politische ist zurück. Keiner kann entrinnen.
Tom Levine
Alke Brinkmann - Memory
Laudatio Kunsthalle Brennabor, Brandenburg | |
Auf meine Frage nach der Bedeutung des Ausstellungstitels, „Memory“ („Erinnerung“), sagte die Künstlerin: „Mir gefällt der Bezug zu dem Memory Spiel, bei dem man sich erinnern muss, wenn man gewinnen will.“ Der Titel sei schwer und leicht zugleich. Sie verwies mich dann auf das Lied „Amnesia“ (Amnesie, also Gedächtnisschwund) der Musikgruppe „Dead Can Dance“, das kurze Zeit nach der Titelfindung herauskam. Dort hat die Malerin ihre Inhalte wieder gefunden. Im Lied geht es darum, dass die Geschichte nie von denen geschrieben wird, die verloren haben, dass das kollektive Vergessen mit dem Generationswechsel einsetzt, was uns daran hindert, im Leben dazu zu lernen: „Memories fall from the trees / Amnesia / Memories like autumn leaves“ (Die Erinnerungen fallen wie Herbstblätter von den Bäumen). Das Lied endet jedoch mit einer hoffnungsvollen Note: „Wenn die Erinnerung die Summe dessen ist, was uns ausmacht, dann lass die Kinder die Wahrheit wissen und sie werden leuchten wie der hellste Stern“. Alke Brinkmann ist 1967 in Saarbrücken geboren. Durch den Vater, der zu einer internationalen Klicke von Mathematikern gehörte, wie die Künstlerin sagt, ist sie in der Schweiz, in den USA und Kanada, sowie in Konstanz am Bodensee aufgewachsen. Sie lebt seit 1988 in Berlin und hat zwischen 1990 und 1995 an der dortigen Hochschule der Künste studiert. Sie produziert viel, arbeitet intuitiv und mit großzügiger Geste. Sie urteilt schnell und sicher, ob ein Bild gut oder schlecht ist – ist es schlecht, wird es weggeworfen. Sie ist lebensfroh und voller Energie, und nebenbei Mutter von vier Kindern. Mit Werken der letzten 20 Jahre, ist diese Ausstellung ihre erste große Retrospektive. Die Vorbilder, die Alke Brinkmann in den frühen Jahren inspiriert haben, sind keine bequemen Künstler. Sie nennt: Ed und Nancy Kienholz, George Segal, Christian Boltanski, Hans Haake, Auguste Rodin, Camille Claudel, Francis Bacon, Paula Modersohn Becker, später Karl-Heinz Hödicke, Rainer Fetting, Marlene Dumas. Diese in der Ausdruckweise extrem unterschiedlichen und individuellen Künstler haben dennoch Einiges gemeinsam: sie beschäftigen sich mit dem Menschen, mit Leben und Tod und mit dem Versuch, ihren Gefühlen, Schmerz, Liebe, Angst und auch Protest, einen künstlerischen Ausdruck zu geben. Ihre Kunst ist emotional gesteuert. Diese Künstler arbeiten auch mit kollektiven Erinnerungen und erbärmlichen Kapiteln der Geschichte wie die Systematik der Judenvernichtung bei Boltanski oder der Vietnamkrieg bei Kienholz. Ihre Werke verleihen dem Unfassbaren einen Raum zum Nachdenken, beinahe einen Gedenkraum. Auch Alke Brinkmann greift existentielle Themen auf. Ihr Ausdrucksmittel ist die Malerei, mit der sie ganz eigene Impulse zum Ausdruck bringt. Sie experimentiert mit den Materialien und den Farben und wählt für jedes Thema eine besondere Technik und ein spezifisches Bildformat. Jeder Inhalt braucht eine eigene Umsetzung, eine Übersetzung. Wenn diese der Künstlerin nicht möglich erscheint, wird das Thema verworfen. Die Serien, die sie produziert, sind eine Art intuitive Bildreportage ihrer Gefühle. Der Malprozess kann als Überprüfung ihrer Gedanken gesehen werden; er ist sowohl von den Emotionen, als auch intellektuell gesteuert. Entsprechend ist Brinkmann in ihrer Handschrift sehr vielfältig, wobei die Sujets an sich aus der Tradition der Malerei kommen: Portraits, Landschaften und Stillleben (letztere hängen allerdings nicht in dieser Ausstellung). 1992 ist der einschneidende Freitod ihrer Mutter. Zwei Jahre später malt Brinkmann das eindrückliche Bild „Tote Mutter“ (das einen zentralen Platz in dieser Ausstellung einnimmt). Hier möchte ich die Künstlerin zu Wort kommen lassen: sie betont, es sei ein Bild über den Schmerz des Verlustes, ein Festhalten ihres eigenen Schmerzes als Tochter. Später fügt sie hinzu, dass der politisch-historische Teil der Ausstellung auch als Hommage an ihre Mutter gesehen werden könnte, als Stimme der Menschen, die im Leben verlieren und nicht in der Lage sind, sich selber zu helfen. Diese Ausstellung spricht viel von der Gewalt von Menschen gegen Menschen. Sie spricht aber ebenso von der Gleichzeitigkeit schöner Momente, von einer entspannten Gegenwelt, die Alke Brinkmann metaphorisch mit ihren Kindern bzw. mit Naturdarstellungen entfaltet. Die Kinder werden häufig schlafend dargestellt. Brinkmann sagt, wenn sie schlafen, sind sie in sich friedlich und schön, sie kommunizieren nicht. Weder die Malerin noch der Betrachter müssen versuchen etwas zu interpretieren oder zu verstehen; das Motiv steht für sich, ohne hintergründige Konnotation. Das eigentlich als Triptychon mit Predella aufgebaute Ölgemälde „Wetter“ erzählt von einem Nachmittag an der Ostsee. Das Fehlen der Mitteltafel betont den Kontrast zwischen dem aufziehenden Sturm und dem schönen Wetter. Der Betrachter wird dazu aufgefordert, sich das zentrale Bild selbst auszudenken. Brinkmann sagt, die Gleichzeitigkeit von schön und gefährlich in manchen ihrer Bilder sei eher zufällig. Für mich als Betrachterin, ist mehr als Zufall im Spiel. Die brennenden Wälder und die stürmischen Himmel sind faszinierend schön und haben für uns zugleich eine bedrohliche Dimension. Die lapidaren Titel „Australien“, „Golf von Mexiko“, „Wald“ oder „Himmel“ überlassen es jedoch dem Betrachter, offen auf die Bilder zuzugehen. An dieser Stelle muss ich an den Komponisten Karl-Heinz Stockhausen denken, der zum Anschlag auf das World Trade Center 2001 sagte, das sei das größte Kunstwerk, das es jemals im Kosmos gegeben habe. Stockhausen führte fort, dass manche Künstler versuchen würden, doch über die Grenze des überhaupt Denkbaren und Möglichen zu gehen, „damit wir wach werden und für eine andere Welt uns öffnen“. Brinkmann bleibt bei sich, sie versucht uns nicht zu erziehen, bestreitet aber nicht, dass eine Feuerbrunst eine gewisse Faszination hat, dass ein wunderschöner, unruhiger Himmel von der kommenden Klimakatastrophe sprechen kann, dass ein friedlicher und sonnendurchfluteter Wald die Frage aufwirft: wie lange noch? Sie erhebt ihre Stimme als Malerin unserer Zeit, mit den Themen die sie und uns alle berühren. Das World Trade Center ist ein solches Thema. Die Menschen, die dort ihr Leben verloren haben, hätten ganz einfach auch wir sein können. Brinkmann hat sich die kleinen Passbilder der Opfer, möglicherweise frühere Bewerbungsbilder, auf der Website eines Rechtsanwaltes im Internet angeschaut und nach Gefühl eine Auswahl von 50 Personen getroffen, die sie in ebenso vielen kleinformatigen Bildern abstrakt wiedergibt. „Wir werden euch nie vergessen“ so heißt die Arbeit. Es geht nicht um den individuellen Namen des Opfers, sondern um die emotionale Dimension der Katastrophe. Es geht um das menschliche Leid, ähnlich wie religiöse Skulpturen des Mittelalters diese seelische Belastung allegorisch darstellen. Die Gesichter sind gemäß der geringen Auflösung ihrer digitalen Vorbilder nur in groben Zügen erkennbar. Mehr als 10 Jahre später, ist das Ereignis an sich noch sehr präsent, aber das Leben in New York ist längst wieder zur Normalität zurückgekehrt. Die gemalten Bilder bringen die Opfer wieder in Erinnerung – es sind Menschen wie „Du und ich“ und ich ertappe mich dabei, wie ich die Gesichter abtaste, um herauszufinden, wer sich wirklich dahinter verbirgt. Gerade die Abstraktion fordert mich auf, mich über das Schicksal des Einzelnen nachzudenken. Wie viele zeitgenössische Maler, malt Brinkmann meist vom Foto. Ihre Motive findet sie im Leben um sich herum, in Büchern, Zeitungen, und im Internet. Auf das Leid der Welt wird sie durch ihre deutsche Vergangenheit sensibilisiert. In der Serie „Großmutters Tagebuch“, enthüllt die Künstlerin ihre schwierige Familiengeschichte. Die Großmutter war überzeugte Nationalsozialistin. Das war in der Familie bekannt, aber wie für viele Enkelkinder, nicht wirklich zu begreifen, bis der Vater das hinterlassene Tagebuch seiner Mutter aus dem Sütterlin „übersetzte“. Das Tagebuch beginnt wie folgt: "Heute ist der Führer gestorben, welch große Trauer kam über uns bei dieser Nachricht. Mir ist als hätten wir den verloren, der es mit uns am Besten gemeint hat, unseren aller besten Freund..." Ähnlich wie in einer Doppelbelichtung, überlagert Brinkmann Fotos aus ihrer Kindheit mit Textpassagen aus dem Tagebuch. Bei dem Bild „Daddy und ich“, ist sie als 3-jährige auf dem Schoß ihres Vaters zu sehen. Auf einem Barcelona Stuhl sitzend – von Mies van der Rohe 1929 entworfen, ist dieser Stuhl eine Ikone der von den Nationalsozialisten verfemten Moderne – liest der sympathisch wirkende Vater seiner kleinen Tochter vor. Was für Welten trennen diese Situation von den wie an der Schultafel geschriebenen Worten? Das Bild zeigt drei Generationen: jede Person bringt eine eigene Gegenwart mit, ohne dass die Vergangenheit erlischt. Im Bildhintergrund steht in Sütterlin: „Die Jugend lernte so schon früh die Gemeinschaft zu pflegen. sie lernte Zucht und Ordnung und wie stolz war jedes Kind wenn es die HJ Uniform (trug)... Die Juden waren wir losgeworden in Kinos, in Theatern und in der Literatur. Unser Leben war so schon sauber geworden...“ Damit die Botschaft sich nicht im Entziffern erschöpft, hat Brinkmann den Text in Schreibmaschinenschrift hinzugefügt. Die kleine Alke ist ganz entzückt und aufmerksam – da stört sie das Tagebuch der Großmutter überhaupt nicht. Was macht man, wenn die Großeltern keine Opfer waren? Wie geht man mit dieser Last um? Diese Serie ist eine Art Untersuchung, eine bildliche Umsetzung der Schwere, die dem nicht-wissenden kleinen Mädchen mitgegeben wurde. Bei den Porträts unter dem Titel „Bangladesch“ geht es um die im April dieses Jahres zusammengestürzte Textilfabrik, die über 1000 Todesopfer und ca. 2500 Verletzte – hauptsächlich Mädchen und Frauen – gefordert hat. Wie kann die Kunst das Unfassbare fassen? Alke Brinkmann hält den Kontrast zwischen den hübschen Frauen in ihren farbigen Kleidern und dem im Gesicht eingeprägten Leid fest. Dies ist vielleicht beim Porträt der Frau in gelber Kleidung am deutlichsten ablesbar. Unter den neuesten Arbeiten sehen wir die “Mad Men”, die wilden bzw. verrückten Männer. Der Titel hat nichts mit der gleichnamigen US-Fernsehserie zu tun, sondern greift das Thema von Schlägereien im Parlament auf, das in sich schon voller Ironie steckt. Ob in Venezuela, der Ukraine oder Italien, Oppositionelle und Abgeordnete prügeln sich wie verfeindete Straßenjungs. Weil die Presse anwesend ist, gibt es viele erstaunliche Bilder der ungebändigten Brutalität dieser in Anzug und Krawatte gekleideten Protagonisten. Die „Mad Men“ sind moderne Allegorien des Zorns. Alke Brinkmann malt figurativ zu familiären, politischen und historischen Inhalten. Ihre Herangehensweise ist konzeptuell. Es sind keine Historienbilder, sondern es geht um Emotionen, die in jedem Menschen stecken und die durch visuelle Assoziationen und Erinnerungen wachgerufen werden. Es geht nicht um die Ursache, sondern um einen seelischen Zustand. Dabei unterstützt die jeweilige Maltechnik das Gefühl, das vom Bild ausgelöst wird. Durch ihre Malerei befragt die Künstlerin Ereignisse, die sie berühren. Jedes Bild ist Teil der Suche nach einem Gleichgewicht der Gefühle. Jedes Bild ist ein Appell an uns, unser Glück zu schätzen und über unsere Vergänglichkeit nachzudenken. © 2013 Helen Adkins |